Alte Samtweberei

Eine Immobilie macht sich nützlich für ein Viertel

In Krefeld wandelt sich ein Viertel. Es fällt vielleicht nicht gleich auf. In der Südweststadt drängen sich Kioske, Kneipen, Reinigungen und Telefonläden aneinander. Sie sind in alten, stuckverzierten Stadthäusern und nüchternen 60er-Jahre-Bauten untergebracht. Die Häuser mal in besserem, mal in schlechterem Zustand, hier und da Grün, auf den Gehwegen Menschen unterschiedlichster Nationalitäten – das ist die Lewerentzstraße in der Südweststadt. Seit 2014 ist hier in der Nr. 104, einem kompakten Gebäudekomplex, das Projekt „Nachbarschaft Samtweberei“ zu Hause. Das Projekt entwickelt das Gebäude und das Zusammenleben im Viertel. Dahinter steht neben der Stadt die Montag Stiftung Urbane Räume.
Warum sich die Montag Stiftung für eine chancengerechte Stadtentwicklung engagiert, erklärt Henry Beierlorzer. Gemeinsam mit Frauke Burgdorff von der Stiftung hat er die Geschäftsführung der UNS gGmbH (Urbane Nachbarschaft Samtweberei) übernommen. Der gelernte Stadtplaner ist verantwortlich für die bauliche Entwicklung des Gebäudeensembles. „Der Stifter, Carl Richard Montag, war sehr erfolgreich im Bau- und Projektentwicklungsgeschäft. Im Alter wollte er mit seinen Stiftungen der Gesellschaft unter dem Motto „Handeln in sozialer Verantwortung“ etwas zurückgeben. Da lagen urbane Räume als ein Stiftungsschwerpunkt nahe, allerdings mit einem besonderen Ansatz: Die Immobilie muss sich nützlich machen für das soziale Leben im Quartier.“

Nicht entwickelbar?
2013 suchte die Stiftung ein geeignetes Objekt. In der Südweststadt in Krefeld wurde sie fündig. Nach dem Auszug der städtischen Verwaltung 2008 stand die ehemalige Weberei leer. Für das mehrstöckige Gebäude mit rund 4500 Quadratmetern Nutzfläche und einer Halle im Innenhof fand sich kein Investor. Das Viertel gilt als strukturell „schwierig“: zu viel Leerstand, schlechte Bausubsubstanz, ein vergleichsweise hoher Anteil an „Transfergeldempfängern“. Aus der Sicht klassischer Investoren und Immobilienentwickler war die Samtweberei „nicht entwickelbar“, nicht zuletzt wegen des denkmalgeschützten Teils.
Ein von der Stadt und der Montag Stiftung Urbane Räume gemeinsam erarbeitetes Handlungsprogramm kam zu einem anderen Ergebnis: Sie entdeckten viel Raum für Kreative, Freiberufler, Studierende, Wiedereinsteiger/innen in den Beruf und Möglichkeiten zum guten innerstädtischen Wohnen. Dazu auch Raum auch für Begegnung in einem multikulturellen Umfeld mit vielen aktiven Vereinen und Initiativen.

Halbe Miete und „Viertelstunden“
Nachdem auch die Bewohnerinnen und Bewohner der Südweststadt bei einer Bürgerinformation Zustimmung zu dem Projekt signalisiert hatten, konnte es im April 2014 losgehen mit der Gründung der „Urbane Nachbarschaft Samtweberei gGmbH (UNS)“. Sie betreibt den Umbau des Gebäudes und ist verantwortlich für die Gemeinwesenarbeit und die Entwicklung vielfältiger Teilhabemöglichkeiten für alle Bevölkerungsgruppen des Stadtteils. Die Stadt hat der UNS gGmbH die Immobilie für 60 Jahre in Erbbaurecht zur Verfügung gestellt. Sie verzichtet so lange auf den Erbpachtzins (rund 34.000 Euro pro Jahr) wie die Überschüsse aus der Vermietung in gemeinnützige Arbeit für das Viertel investiert werden. Die Montag Stiftung unterstützt die UNS mit dem nötigen Eigenkapital für die Baumaßnahmen und darüber hinaus fünf Jahre lang mit Fördermitteln für ein Quartiersmanagement inklusive Öffentlichkeitsarbeit, Personal und vor allem für bürgerschaftliche Projekte.
Und dann gibt es noch das Modell „Viertelstunden“. Zu einer sehr günstigen Kaltmiete leisten die gewerblichen Mieter der Samtweberei eine Stunde Gemeinwesenarbeit pro Quadratmeter im Jahr für das Quartier. „Das funktioniert sehr gut“, freut sich Beierlorzer. Die Nutzer der Alten Samtweberei haben etwa eine Stadtteilzeitung initiiert, bieten Kurse für Kinder und Jugendliche, z. B. einen Recycling-Kunst-Workshop an, leisten Notfall-Nachhilfe und Sprachförderung, helfen Vereinen und Initiativen bei der professionellen Kommunikation und organisieren Veranstaltungen.
„Wenn die Bautätigkeiten abgeschlossen sind, dann leben und arbeiten hier 150 Menschen, die aufgrund ihrer Mietverträge oder aus Selbstverpflichtung heraus jährlich 2500 Stunden gemeinnützige oder gemeinwohlorientierte Arbeit für die Menschen im umliegenden Stadtviertel leisten werden“, erklärt Henry Beierlorzer. „Das ist schon was Besonderes.“

Viertelsrat und Viertelsratschlag
Damit die „Viertelstunden“ nicht am Viertel vorbeigehen, koordiniert ein Viertelsrat Angebote und Bedarf. Im Viertelsrat kann jeder mitmachen, der Lust dazu hat. Das Gremium trifft sich regelmäßig alle vier bis sechs Wochen, die Sitzungen sind öffentlich. Für die UNS ist der Viertelsrat ein wichtiger Ratgeber, der zukünftig auch eigenverantwortlich darüber entscheiden wird, für welche Maßnahmen die 60.000 Euro Überschüsse aus der Bewirtschaftung der Immobilie verwendet werden. Einmal im Jahr tagt noch der Viertelsratschlag, die „Vollversammlung“ des Samtweberviertels. Er legt große Themen und die Leitlinien für die zukünftige Entwicklung fest. So wurde zum Beispiel für die ersten Jahre die Themen „Sprache“ und „Jugend“ als Schwerpunkte der Projektarbeit bestimmt. Regeln für die Gremienarbeit gibt es wenige. „Wichtig ist vor allem das Vertrauen untereinander“, betont Henry Beierlorzer. Die UNS versteht sich in dem Prozess als Plattform und Katalysator. „Im Viertel gab es schon vor uns viele engagierte Menschen, Initiativen und im Gemeinwesen aktive Träger.“ Sein Kollege Robert Ambree hilft als Quartiersmanager, indem er Partner zusammenbringt, die dann gemeinsam Projekte umsetzen. So hat die seit Jahren in der Weiterbildung für Kinder und Jugendliche aktive Bürgerinitiative St. Josef mit Hilfe der UNS für den Betrieb der „Ecke“ Fördermittel akquiriert. Nun dient das ehemalige Ladenlokal als Anlaufstelle und Projektraum für Sprachkurse, offene Frühstücke, Handarbeitsgruppen und vieles mehr.

Es geht voran: Pionierhaus, Torhaus, Denkmal, Shedhallen

Für all diese Aktivitäten im Samtweberviertel soll sich die Immobilie in Zukunft nützlich machen, Räume anbieten, Überschüsse erwirtschaften und Engagement der Nutzer mobilisieren. Baulich werden die vier Bauabschnitte etappenweise abgearbeitet. Das Pionierhaus, ein Verwaltungsbau aus den 1960er Jahren, war innerhalb von fünf Monaten wieder bezugsfertig. „Wir brachten Heizung, Wasser, Strom, Fenster etc. wieder in Ordnung und übergaben den zukünftigen Mietern den Rohbau zum Selbstausbau“ erzählt der UNS-Geschäftsführer. Dadurch konnte die Kaltmiete mit 3 Euro pro Quadratmeter plus entsprechende „Viertelstunden“ niedrig gehalten werden. Auf 1.000 Quadratmetern entstanden kleine Büros für 25 Unternehmen. Auf jedem Stockwerk gibt es eine Küche für alle. Erste Kooperationen haben sich bereits entwickelt.
2015 wurden im Torhaus auf 620 Quadratmetern größere und hochwertigere Büroräume ausgebaut, für Unternehmen die größere, zusammenhängende Flächen benötigen. Im Torhaus entsteht auch das Nachbarschaftswohnzimmer. Es dient als kleiner Veranstaltungsort für Gruppen und Initiativen des Viertels, als ruhiger Arbeitsort und als Treffpunkt für die Nachbarschaft mit einem selbstorganisierten Cafebetrieb. Zurzeit läuft der Ausbau des „Denkmals“ zum gemeinschaftlichen Wohnprojekt - 37 Mietwohnungen auf rund 2.750 Quadratmetern. Der historische Kern der Samtweberei stammt aus dem Ende des 19. Jahrhunderts. „Im Denkmal achten wir auf die soziale Mischung. Es wird große und kleine Wohnungen geben, für jung und alt, für den großen und kleinen Geldbeutel, vom Studentenappartement über öffentlich geförderten Wohnraum bis zur schicken Maisonettewohnung mit Dachterrasse“, erklärt Henry Beierlorzer. Die Mieten werden bei 5,25 bis 7,95 Euro pro Quadratmeter kalt liegen. Mittlerweile hat sich ein harter Kern zukünftiger Mieter gebildet, die an der Planung mitwirkten und bereits Pläne für ihre „Viertelstunden“ schmieden. Bei der Begehung ahnt man, dass sie sich wohlfühlen werden: hohe Decken, lichtdurchflutete Räume, schön eingepasste Holzfenster, luftiger Zugang von außen über Galerien und für jedes Stockwerk ein gemeinsamer Balkon mit Blick in den Innenhof.
Im letzten Bauabschnitt folgt die Öffnung und der Umbau der sogenannten Shedhallen im Innenbereich. Wo früher Webstühle standen, entstehen mit Hilfe von Städtebaufördermitteln der Stadt Krefeld und des Landes NRW ein Gemeinschaftsgarten und ein öffentlicher Platz für das Viertel „unter Dach“. Mitte 2017 soll alles fertig sein.
„Wo das möglich ist, erhalten wir den Bestand und recyceln vorhandende Materialien“, erklärt Henry Beierlorzer. „Das ist nachhaltiger als Abriss und Neubau eines Superenergiehauses.“ Wie sehr die Mieterinnen und Mieter selbst auf Nachhaltigkeit achten, davon ist er überrascht. „Unsere Sorge vor hohen Heiz- und Betriebskosten im Pionierhaus hat sich als unbegründet erwiesen.“ Auch in Sachen Nachhaltigkeit strahlt das Projekt auf die Nachbarschaft aus: Nach dem Anschluss der Alten Samtweberei an das Netz wird nun das Viertel mit Fernwärmeanschlüssen versorgt.

Viele Finanzierungsbausteine
Wie finanziert sich ein solches Projekt? „Ohne Eigenkapital von der Förderstiftung wäre das alles nicht möglich – ohne faire Darlehen auch nicht“, sagt Beierlorzer. Hier passt die GLS Bank. „Sie hat einfach Erfahrung mit gemeinschaftlichen Wohnprojekten und gemeinwohlorientierten Immobilien. Bei manch anderer Bank würde ein solches Projekt wegen des ungewöhnlichen Projektansatz eher als Risiko bewertet.“ Die GLS Bank hat auch einen weiteren Finanzierungspartner für ein über 20 Jahre laufendes Darlehen vermittelt. Hinzu kommen Förderdarlehen für die 13 öffentlich geförderten Wohnungen und Städtebauförderzuschüsse für die Shedhalle. Gut 7,5 Mio € werden somit investiert – für eine soziale Rendite im „Samtweberviertel“.

Mehr Infos

Das Projekt wird ausführlich und mit aktuellen Blogbeiträgen auf www.samtweberviertel.de dokumentiert. Hier befinden sich im Serviceteil auch viele Dokumente zum Download. Auf der Website der Montag Stiftung Urbane Räume informiert ein Bericht ausführlich über die kooperative Entwicklung von Quartieren und das Programm Initialkapital.

Wer selbst ein Wohnprojekt initiieren möchte, eines sucht oder wohnungspolitisch engagiert ist, wird auf dem Wohnprojekte-Portal, beim FORUM Gemeinschaftliches Wohnen e. V.  und beim Wohnbund fündig oder auf Wohnprojektetagen, die regelmäßig in verschiedenen Bundesländern stattfinden.

Fotos:  UNS gGmbH (falls nicht anders vermerkt)

Stand: September 2016

 

Im Jahr 2017 wurde das Projekt mit dem „NRW-Landespreis für Architektur, Wohnungs- und Städtebau – Gutes Bauen im öffentlich geförderten Wohnungsbau“ belohnt.

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