timeout Jugendhilfe
Auszeit für schulmüde Kinder
Stress, Angst, Entmutigung – Schulverweigerung hat viele Ursachen. Wenn es zu Hause und in der Schule nicht mehr zum Aushalten ist, finden Kinder und Jugendliche auf dem Hofgut Rössle in Breitnau im Hochschwarzwald einen Ort der Ruhe, der Konzentration und der Sicherheit. Weit weg von ihrem bisherigen Alltag schöpfen hier schulmüde und schulverweigernde Kinder und Jugendliche ab zehn Jahren in einer Auszeit Kraft und erhalten neue Impulse für ihre weitere Entwicklung.
Träger des Hofguts Rössle ist Timeout e.V., eine anerkannte gemeinnützige Einrichtung der Jugendhilfe. Gegründet haben ihn Lehrer*innen, Schulärzte und Eltern im Jahr 2002. Das Rössle ist ihre Antwort auf die Frage, wohin mit Kindern und Jugendlichen, die in Schulen aller Art „aussortiert“ wurden? Mit dem Hofgut möchten sie diesen Kindern einen Ort bieten, an dem sie sich willkommen fühlen.
Von „Ich kann nichts“ …
„Ich kann nichts, ich bin nichts, ich werde nichts“, so beschreibt Hubert Schwizler, schulischer Leiter von timeout das Selbstbild vieler Jugendlicher. Alle kommen aus einer Notsituation heraus. Sei es, dass sie längere Zeit die Schule geschwänzt haben oder sich die Eltern nicht um sie kümmern konnten, sei es, dass sie psychische Probleme oder gar traumatische Erfahrungen wie Missbrauch oder Gewalt gemacht haben. Viele fragen sich auch, wozu sie Englischvokabeln oder den Satz des Pythagoras lernen sollen, wenn sie ihre Berufsaussichten sowieso als katastrophal einschätzen.
Zunächst wohnen die Kinder du Jugendlichen drei bis vier Tage zur Probe. Dann entscheiden sie, ob sie bleiben wollen. In den ersten drei Monaten in Breitnau dürfen sie nicht am Unterricht teilnehmen, sondern gewöhnen sich ein: an die ländliche Umgebung, an die Luft in über 1000 Metern Höhe, überhaupt an einen Lebens- und Arbeitsrhythmus, der von den Tieren auf dem Hof vorgegeben wird.
Von Anfang an arbeiten sie in der Haus-, Land- und Forstwirtschaft mit. „Für die meisten ist das ein krasser Tapetenwechsel“, meint Schwizler. Ebenfalls von Anfang an werden die Probleme, die zur Schulverweigerung geführt haben, intensiv bearbeitet. Einige der Mitarbeiter*innen sind systemische Familienberater, die mit den Eltern, den Jugendlichen und/oder beiden zusammen arbeiten.
Die Hälfte der bis zu 20 Jugendlichen kommt aus dem Landkreis Breisgau-Hochschwarzwald, die andere Hälfte aus Großstädten aus ganz Deutschland. Das Zusammenleben ist geprägt von gegenseitiger Achtung und Wertschätzung. Einige der Erzieher*innen und Lehrer*innen wohnen auch auf dem Hofgut. „Für die Jugendlichen ist das sehr wichtig. Sie erleben, dass andere Menschen aus freien Stücken diesen Lebens- und Wohnort mit ihnen teilen“, erklärt der Lehrer.
Auf dem landwirtschaftlichen Betrieb heißt es früh aufstehen – in der Regel vor sechs Uhr. Dann geht es zum Ausmisten und Melken in den Stall. Ab 7 Uhr gibt es Frühstück. Um 8.30 Uhr beginnt der Unterricht bzw. die Arbeit im Haus, im Wald oder in der Landwirtschaft. Mittags essen alle gemeinsam. Dabei wird viel geredet, gelegentlich auch geschwiegen, wenn ein Jugendlicher oder Mitarbeiter das Bedürfnis nach Stille hat und den großen Silentium-Gong im Speisesaal anschlägt. Nachmittags wird weiter gearbeitet oder Hausaufgaben gemacht. Außerdem gibt es zahlreiche kreative Angebote wie Musik, Akrobatik, Clownkurse, Schauspiel, Malen oder Zeichnen. Am Ende des Tages wird wieder gemeinsam zu Abend gegessen.
… zu „Ich kann was!“
„Gerade bei der Arbeit merken die Jugendlichen, dass ihr Tun etwas bewirkt. Sie tauchen ein in vielfältige Tätigkeiten, reparieren Dinge, kochen, versorgen Tiere und erleben so Sinnhaftigkeit“, beschreibt Hubert Schwizler. „Wenn ich morgens nicht aufstehe und die Kühe rechtzeitig melke, leiden die Tiere und werden wild. Das ist so unmittelbar nachvollziehbar, dass sich eine abstraktere Sinnfrage gar nicht stellt.“ Langsam wächst die Erkenntnis „Ich bin ja gar nicht Nichts, ich kann etwas.“ Das stärkt das Selbstwertgefühl, und häufig entsteht daraus der Entschluss, etwas Bestimmtes erreichen zu wollen, eine Ausbildung oder einen Schulabschluss. „Beim einen braucht das mehr, beim anderen weniger Zeit“, sagt der Lehrer. "Aber die meisten können es nach den drei Monaten kaum erwarten, wieder am Unterricht teilzunehmen.“
Das Hofgut kooperiert mit einer Freiburger Waldorfschule und unterhält in Breitnau eine autonome Außenklasse. Bevor der Unterricht wieder aufgenommen wird, setzen sich Erzieher*in, Lehrer*in und Jugendliche*r zusammen und beraten, ob das gleich mit vollem Stundenplan, nur mit einem Unterrichtsblock am Tag, Schule an einem oder mehreren Tagen geschehen soll. So entsteht ein individueller Stundenplan. Wenn nötig, gibt es auch Einzelförderung bevor der Jugendliche wieder in einer Gruppe lernen kann. Und wenn es einmal zwei Jahre dauert, bis jemand sein Ziel „ausgebrütet“ hat, dann halten die timeout Mitarbeiter*innen das aus.
Selbständig
Die meisten Jugendlichen leben bis zu zwei Jahren auf dem timeout-Hof. Ein Jahr ist das Minimum. Manche verbringen hier auch den Rest ihrer Jugendzeit, wenn die familiäre Situation es nicht erlaubt, dass sie wieder nach Hause zurückkehren. Mittlerweile gibt es drei weitere timeout-Einrichtungen. In Vörstetten wohnen Jugendliche, die eine Ausbildung machen, aber noch Begleitung brauchen. In St. Märgen können junge Erwachsene mit Abschluss, die aber noch nicht reif sind für eine Ausbildung, berufsvorbereitende Praktika in Küche und Hauswirtschaft machen. Im benachbarten Titisee-Neustadt betreut timeout darüber hinaus zwölf unbegleitete minderjährige Asylsuchende aus Afghanistan, Syrien, Irak und Afrika. Egal welches timeout-Haus, ein Ziel ist allen gemeinsam: Die Ermutigung zu einem selbständigen Leben.
Weitere Info
Zu den Gründer*innen des Vereins timeout gehörten auch einige Waldorfleherer*innen. Da lag eine Geschäftsverbindung zur GLS Bank nahe. 2016 wurde der Jugendhilfe-Verein in eine gemeinnützige GmbH umgewandelt.
Fotos: Marc Hubert Schwizel (Außenansicht), Margit Müller (andere)
Stand: Januar 2017